Die Paranoia im Archiv

Die Paranoia im Archiv

 

Wie Georg Diez und Christopher Roth mit ihrem Projekt “80*81” die Welt neu sortiert haben

 

Georg Diez ist Journalist und Christopher Roth Filmemacher. Bis zum Herbst 2008 haben die beiden gemeinsam in erster Linie Tennis gespielt. Dann fuhr Roth zu Dreharbeiten nach Moçambique, er filmte in einem heruntergekommenen Betonkomplex, der “Grande Hotel” genannt wurde, und dort hatte er so eine Art Eingebung. Sie hatte etwas mit dem “Grande Hotel” zu tun und damit, dass dort am Silvesterabend 1980/81 ein Fest gefeiert worden ist. Gäste waren die Patienten des im Hotel befindlichen Krankenhauses, Sträflinge aus dem Gefängnis im Keller des Gebäudes, Mugabe-Milizen aus den oberen Stockwerken und ostdeutsche Militärausbilder, die Mugabes Männern etwas beibringen sollten. Wer wäre nicht gern dabei gewesen?

Roth dachte, irgendwie ging an diesem Abend dort etwas zu Ende und fing gleichzeitig etwas Neues an. Das “Grande Hotel” hatte die vollste Blüte seiner afrikanischen Tropendekadenz erreicht, und die Welt träumte mit Mugabe zugleich von einem neuen Aufbruch des Kontinents, genau an der Schnittstelle der Jahre 80/81. Von diesen Gedanken erzählte Roth seinem Tennispartner Diez, und den beiden wurde klar, dass Roth etwas entdeckt hatte, das weit über das “Grande Hotel” und das südliche Afrika hinausging. Sie kamen zu dem Schluss, dass die beiden Jahre 1980 und 1981 eine bis dato unerkannte, welthistorische Weichenstellung bedeutet haben. Ja, dass die Grundsteine der Welt, wie wir sie heute kennen, in diesen beiden Jahren gelegt wurden.

“Psycho-Fashionshow”

Folgerichtig gründeten die beiden das Projekt “80*81”. Sie beantragten zu seiner Finanzierung Gelder bei der Kulturstiftung des Bundes, und die Kulturstiftung, vielleicht die unterschätzteste Einrichtung der Bundesrepublik, war sofort zur Unterstützung bereit. Seither wühlen sich Georg Diez und Christopher Roth durch die Archive, sie reisen um die Welt, um in Interviews mit berühmten Männern und Frauen ihre Theorie bestätigt zu kriegen. Sie publizieren fast monatlich eine Zeitschrift, in der sie neue Beweise versammeln und Transkripte ihrer Interviews drucken. Am 13. Januar endet die einjährige Wahrheitssuche im indischen Rishikesh, also dort, wo die Beatles ihrem Guru Maharishi (“Sexy Sadie”) begegnet sind, in einem gewaltigen Schlussakt, in dem all die Geister, die Diez und Roth zu Kronzeugen ihrer Idee beriefen, in den heiligen Ganges entlassen werden sollen.

Bei einer der ersten öffentlichen Performance von “80*81”, die elektronische Zufallsgeneratoren und eine Handvoll Schauspieler unter dem Titel “Psycho-Fashionshow” auf die Bühne eines Stadttheaters hob, erschien auch ein Lokalpolitiker, der sich ausgerechnet an dem Abend mal anschauen wollte, was im Theater denn so gezeigt würde. Als die Performance zu Ende war, sie war immerhin in Zusammenarbeit mit René Pollesch entstanden, war der Politiker zu der Meinung gelangt, dass man dem Theater alle Gelder sofort fristlos streichen müsse. So einen Schwachsinn könne der Staat doch nicht bezahlen.

Und irgendwie kann man ihm das zunächst auch gar nicht verübeln, das Ganze mutet auf den ersten Blick ja wirklich wie Schwachsinn an. 80/81, warum ausgerechnet diese beiden Jahre, warum nicht 17/18 oder noch eher 89/90, und warum soll man für den Beleg der These zwei Männer bezahlen, die zu ihrer Untersuchung eigentlich ungeeignet sind, und warum reden die darüber dann mit Don DeLillo statt mit Heinrich August Winkler, und so weiter.

Man fühlt sich schnell dazu versucht zu erklären, das sei halt Kunst, was Diez und Roth da machen, und damit ist dann natürlich schon wieder alles gerechtfertigt, denn zu den Kriterien der Kunstförderung in Deutschland gehört mit Sicherheit weder deren räumliche noch deren intellektuelle Zugänglichkeit. Aber irgendwie hätte man damit auch wieder verloren und Diez und Roth auch falsch verstanden.

Was ist passiert?

“80*81” ist nämlich genauso ernst, wie man das Projekt zu nehmen bereit ist, und wenn man sich ein bisschen ausführlicher damit befasst, erkennt man, dass es insgesamt ein ziemlich komplexer Kommentar zu den Gründen ist, auf die wir uns berufen, wenn wir einer Sache Bedeutung verleihen, und dass das Projekt daher eigentlich jeden interessieren muss.

Der erste Band von “80*81” heißt “What Happened?”, eine Art Einführung. Sie besteht zunächst einmal in lauter Bildern, alle Veröffentlichungen von “80*81” strotzen nur so vor Bildern, das macht sie angenehm durchzublättern, ist aber auch ein Statement. Diez spricht von der “Intelligenz der Bilder”, von ihrer narrativen Kraft, davon, wie wir zwei Bilder nebeneinanderstellen können und jeder Betrachter sofort nach Verbindungen dazwischen suchen wird. Der Mensch sucht nach Ordnung, und wenn es keine gibt, dann erfindet er eine. Was haben Reagan, die Besucher des legendären Londoner Clubs “Blitz”, Johannes Paul II. und Richard Gere miteinander zu tun? Die Jahre ’80 und ’81, aber auch die Verknüpfungen, die Diez und Roth zwischen ihnen herstellen werden.

Bei den Texten des Bandes kann man sich nie ganz sicher sein, ob einem hier gerade einfach nur evokativ-nostalgische Artefakte aus dem betroffenen Zeitraum vorgehalten werden – oder ob sich dahinter nicht auch noch eine zweite Botschaft verbirgt, die auf geheime Zusammenhänge verweist. Das Ganze erinnert an Thomas Pynchon, an ein Werk also, das aus der wissenschaftlichen Dekonstruktion aller gegebenen Ordnungsmuster folgert, dass jede Denkordnung sich prinzipiell nicht von der Paranoia unterscheiden lässt, die dort, wo keine objektive Ordnung ist, eine zu erkennen vermeint, und das wird dann dadurch verstärkt, dass sich das Werk selbst auch nur dem paranoischen Leser erschließt, der überall nach Hinweisen, Zeichen, Mustern von Macht, Bedeutung und Struktur sucht: So liest sich auch “80*81” am besten.

Es handelt sich also um einen paranoischen Spaziergang durch das universale Archiv. Wir leben mehr denn je in einer Zeit, in der alles aufbewahrt und geordnet wird, universal zugänglich durch die Digitalisierung, und die Willkür, das Prekäre der Ordnungsprinzipien, in aller erster Linie der Kausalität, lässt sich wunderbar offenlegen, wenn man mit einem auf den ersten Blick unsinnigen Ordnungsprinzip neu an dieses Archiv herangeht, und die Annahme, dass sich in den zwei Jahren ’80 und ’81 alles entschieden hat, ist zunächst natürlich genau so ein Prinzip. Wenn man, so wie Diez und Roth das tun, rigoros arbeitet, wenn man also, wie viele Geisteswissenschaftler das ja auch tun, die Arbeit mit der Voraussetzung dessen beginnt, was am Ende herauskommen soll – kein Historiker ist je in ein Archiv gegangen, ohne dort nach etwas (vorher) Bestimmtem zu suchen -, dann erhält man am Ende fast notgedrungen ihre Bestätigung.

So finden sich bei Diez und Roth auch ein paar durchaus starke Ideen. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass 1981 Ronald Reagan ins Amt gewählt worden ist und damit der Neoliberalismus in Amerika Einzug hielt. Da wären die Zusammenhänge zwischen Reagans Regierung und der Geburt des Gottesstaats in Iran (siehe Iran-Contra-Affäre), der jetzt so bedrohlich erscheint. Da wären Ali Agca und das Papstattentat, dessen Zusammenhang mit den Marienerscheinungen von Fatima und die Frage, was die gemeinsam für den Ostblock bedeuten mussten (die Tatsache, dass der Papst sich durch das Attentat an die Marienerscheinungen in Fatima erinnert fühlte und darin die Aufgabe entdeckte, den Ostblock zum Einsturz zu bewegen, ist für Nicht-Papisten nicht anders als paranoisch zu sehen, Paranoia wäre demzufolge also ein Motor der Weltgeschichte).

Rostende Ordnungen

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Diez und Roth ähnliche Entdeckungen auch mit anderen Jahren geglückt wären. Gerade darin aber liegt der letztlich aggressive Kommentar von “80*81” zu den akademisch korroborierten Ordnungsmustern, vor allem jenen der Geschichtswissenschaft, der es, wie Diez sagt, am Essay mangelt, am Versuch also, die üblichen Hierarchien durch Experimente aufzubrechen. “Das Verständnis der Wirklichkeit”, hat Robert Musil geschrieben, “ist ausschließlich eine Sache für den historisch-politischen Denker. Für ihn folgt die Gegenwart auf die Schlacht bei Mohács oder Lietzen wie der Braten auf die Suppe, er kennt alle Protokolle und hat in jedem Augenblick das Gefühl einer prozessualen Notwendigkeit.” Musil fand diese Sicht der Dinge fragwürdig und sehnte sich nach dem Essayismus als neuer Lebensform. Er wurde 1880 geboren, genau hundert Jahre vor dem entscheidenden Zeitraum. Musil war visionär, Diez und Roth nennen sich “retrovisionär”. Zufälle?

Im ersten Band von “80*81” gibt es einen kleinen Auszug aus Alain Badious “Das Jahrhundert”. Badiou hat sinnvolle Narrative gefordert, die weder logisch noch dialektisch konstruiert sind. Dann gibt es ein Gespräch mit Slavoj Zizek (die “Interviews” in “80*81” sind immer eher Gespräche), in dem er seinen Überdruss an der konstruktionsbefreiten Postmoderne zum Ausdruck bringt. Im vierten Band begegnet man einem kleinen Essay über den Quantenphysiker Wolfgang Pauli, Einsteins Lieblingsschüler, der sich gemeinsam mit C. G. Jung Gedanken machte über Synchronizität, über nichtkausale Verbindungen im Weltgewebe also. Diese Ausschnitte haben wenig mit den Jahren 80/81 zu tun, aber viel mit der Idee hinter dem Projekt: Denn das Ganze ist eben ein neues Narrativ, eine neue Idee, und sie ist ebenso schwachsinnig, wie man sie rechtfertigen kann, wenn man nur dazu bereit ist, ein wenig jenen Verstand zu verabschieden, der uns in seiner Konsequenz stets die Fragwürdigkeit jener Muster vorführt, die er vorher ermöglicht hat.

In ein paar Tagen geht “80*81” zu Ende. Das ist schade, der Essay hätte noch lange weitergehen können. Vielleicht wird sein kritischer Ton am Ende ja aber doch nicht überlesen werden. Georg Diez und Christopher Roth kann man keinen wirklichen Vorwurf machen, dass sie an dieser Stelle nun aussteigen, der Rückweg in eine Welt, die 80/81 nicht als Wasserscheide der Weltgeschichte sieht, wäre sonst immer schwerer geworden. Diez sagt: “Das Aufhören dient unserer geistigen Gesundheit”, nachvollziehbar, zugleich aber müsste doch gerade er schon längst wissen, dass auch die nur eine Konstruktion ist.

ALARD VON KITTLITZ

 

Alle Bände von “80*81” sind erschienen bei der Edition Patrick Frey, 18 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch das ist 1980: Richard Gere in “American Gigolo”. Foto images.de