Kultur Spiegel, 2010

1980/81

Die wundersamen Jahre

Von Georg Diez und Christopher Roth

1989 hat die Welt verändert, heißt es. Aber waren die Ereignisse von 1980/81 vielleicht viel wichtiger?

Warum gerade die Jahre 1980 und 1981? Wann wurde noch mal die erste wirklich große Verschwörung inszeniert? Wann wurden Plots wichtiger als politische Entscheidungen? Wann wurde ein Schauspieler amerikanischer Präsident? Wann wurde eine Wahl durch einen Waffenhandel entschieden? Wann definierten Schwule, wie Heteros sich anziehen sollten? Wann wurde ein Papst durch die Jungfrau Maria gerettet? Wann wurde Geld über den Vatikan nach Polen geschleust? Wann war der Jungfernflug des Spaceshuttle “Columbia”? In all ihrer Theatralität, ihrer Maskenhaftigkeit, ihrer Fabelhaftigkeit sind diese beiden Jahre der Anfang oder Höhepunkt oder der Auslöser einer Ära. Der Postmoderne? Im Rückblick fügen sich fast unglaubliche Gegebenheiten zu einer Geschichte. Zu Geschichte. Die Hauptdarsteller in diesem Stück, das von der Zukunft handelt, balancieren auf einem schmalen Grat, zwischen Realität und Wahn, zwischen Fiktion und Wahrheit.

Wiktor Kortschnoi lacht. Er schüttelt sich fast, er schaut zur Tür, um zu sehen, ob seine Frau das auch gehört hat. Das Göttliche? Ob er das Göttliche gesehen hat? Wiktor Kortschnoi ist einer der besten Schachspieler, die es je gab, aber wer dachte, dass Schach ein Spiel ist, das vor allem mit Rationalität und Logik zu tun hat, der kennt nicht Kortschnoi. Er beugt sich vor und sagt ein Wort, das für ihn alles erklärt, Triumph und Tragödie, das Genie des Einzelnen und die Macht, die über alles zielt: “Parapsychologie” sagt der 79-Jährige und erzählt dann, wie es damals war, als er seinen bittersten Kampf hatte, gegen Anatolij Karpow: Er, Kortschnoi, der zornige Sowjet-Flüchtling, gegen den gescheitelten Vorzeigekommunisten, eine symbolische Schlacht während des Kalten Kriegs, im Herbst 1981, das “Massaker von Meran”.

Und Richard Gere legt eine Krawatte auf das eine Hemd. Und eine andere auf ein anderes Hemd. Und noch eine auf das dritte Hemd. Helle Brauntöne. Beige. Welche Krawatte passt zu welchem Armani-Anzug? Im Frühjahr 1980 kam “American Gigolo” von Paul Schrader ins Kino. Gere machte Streck- und Hänge-Yoga, er zeigte seinen Hintern, er tänzelte um sein schwarzes Mercedes-Cabrio herum, und wer dachte, dass ein Film, der von einem Callboy und einer älteren Frau erzählt, nicht schwul sein kann, der kannte Ferdinando Scarfiotti nicht. Der Italiener baute für Schrader ein helles, fast hellenistisches Los Angeles, das es erst einmal auf der Leinwand gab. Giorgio Moroder machte die Musik dazu. Sie waren die ästhetischen “Achsen-Mächte”, wie Schrader das nannte, sie waren Old Europe, sie erfanden New Angeles. Etwas Spirituelles durchzieht diesen Film. New Age? New Male? Richard Gere war metrosexuell, lange bevor es dieses Wort gab.

Der Tag des Papstattentats

Françoise Barré-Sinoussi sitzt in einem Büro, das in etwa so groß ist wie der Schreibtisch eines Pharmachefs, sie ist erkältet, und um sie herum stapeln sich die Aktenordner. Barré-Sinoussi vom Institut Pasteur in Paris, 2008 erhielt sie den Nobelpreis für Medizin. Sie identifizierte das HI-Virus, und auch diese Geschichte ist ein Thriller, der von der Konkurrenz zwischen Amerikanern und Franzosen handelt und von einem gewissen Gaëtan Dugas, dem sogenannten Patienten Nummer eins, ein frankokanadischer Steward, der sehr viele Meilen flog und sehr viele Männer hatte, als die ersten Gerüchte über die neue Seuche kursierten, 1980, 1981. Und wer dachte, dass in dem Wort “Schwulen-Krebs” ein Fünkchen Wahrheit steckt, der sollte mal Barré-Sinoussi fragen. Sie schneuzt und holt dann Luft. “So nannte man Aids am Anfang. Was für ein Schwachsinn.”

Als Papst Johannes Paul II. schon fast vor Mehmet Ali Agca steht, da beugt er sich, so will es die Legende, hinunter zu einem Mädchen, das ihm ein Heiligenbild der Jungfrau Maria hinhält. Es ist der 13. Mai 1981, der Jahrestag der Marienerscheinung im portugiesischen Fátima. Ali Agca schießt. Nur weil der Papst sich bückt, wird er nicht gleich getroffen, nur deshalb überlebt er. Es gibt verschiedene Theorien darüber, wer dieses Attentat wollte. Die einen sagen, es war Ajatollah Chomeini und der erste Akt des Dschihad. Die anderen sagen, es war der eine oder andere sowjetische Geheimdienst, es ging um den Einfluss des Papstes in Polen, wo 1980 die Werftarbeiter streikten und Solidarno sich formierte. Und wer dachte, das Ende des Kommunismus sei vor allem mit dem Jahr 1989 verbunden, der vergisst Lech Walesa und diesen Papst, der seinem Attentäter sehr schnell verzieh und tatsächlich half, Geld nach Polen zu bringen. Die dritte Prophezeiung von Fátima, so heißt es, sei das Papstattentat gewesen. Aber ob das schon die ganze Geschichte oder gar die Wahrheit ist, wer weiß das schon.

Wiktor Kortschnoi erzählt eine Geschichte, über die er selbst lachen muss. Es geht um einen Heidelbeerjoghurt, den Anatolij Karpow bei seinen Spielen gegen Kortschnoi auf den Tisch gestellt bekam. Kortschnoi ist sich sicher, dass Karpow irgendwelche Medikamente bekam, die ihn wach und fit machen sollten, vielleicht sogar Kokain. Außerdem saßen bei den Partien 1981 in Meran immer sechs Männer aus Leningrad im Publikum, die nichts anderes zu tun hatten, als Kortschnoi niederzustarren. Schach kennt das Göttliche und das Diabolische. Schach ist Schönheit, Zerstörung, Vernichtung. “Schach ist doch nur ein Spiel”, sagt Kortschnoi, aber er glaubt das selbst nicht. 1981 versuchte er sich mit Yoga, mit vegetarischem Essen, mit Hilfe einer spirituellen Rätsel-Frau aus Amerika gegen die Psycho-Hexerei der Sowjets zu wehren. Er ist sich nicht sicher, ob die Frau vom CIA bezahlt wurde, er fragte aber auch nicht nach. Wer dachte, der Systemkonflikt wurde nur mit Raketen ausgetragen, der hat die Symbolkraft von Schach nicht verstanden. “Ich habe meine Gegner aus der Sowjetunion gehasst”, sagt Kortschnoi, “natürlich.”

 

Zwei Männer als frühzeitige Sieger

 

Schon zum 31. Dezember 1980 standen zwei Männer als Sieger fest, die einen Deal gemacht hatten, den die Welt noch heute nicht glauben kann oder will. Ronald Reagan war im November zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden, der Ajatollah Chomeini hatte die Radikalisierung vorangetrieben und seine Feinde im Inneren ausgeschaltet. Die Geiseln saßen immer noch in der US-Botschaft, Reagan soll Chomeini Geld und Waffen versprochen haben, wenn sie nicht vor der Wahl freigelassen werden würden. Wer dachte, dass Jimmy Carter keine Chance hatte, der weiß nichts von der Operation “October Surprise”. Abol Hassan Banisadr war Präsident damals in Iran; er sagt, dass die amerikanischen Geheimdienste die ganze Geiselnahme einfädelten, um Carter zu stürzen. Im Sommer 1981 verließ er Iran und kehrte nie wieder zurück.

Als der Blitz Club in London eröffnete, war John Galliano Anfang zwanzig, und Punk war seit mindestens einem Jahr tot. Es waren die Jahre, in denen Margaret Thatcher das trübe, graue Nachkriegs-Verlierer-England in die Gegenwart hievte, wofür sie auch ausgiebig gehasst wurde. Aber Hass reichte nicht mehr. Im Blitz Club feierten Galliano, Boy George oder Steve Strange den Glanz, den Glamour, die neue Zeit, in aller barocken Überladenheit und Ausschweifung, im Maskenhaften des Post-Punk, im Schwelgerischen des New Pop. Es war wie Karneval, nur lauter. Die Haare waren blau oder wasserstoffblond, die Schminke war grell, die Kleidung war ein Akt der ästhetischen Selbstverteidigung. Das Grauen war vorbei. Und wer dachte, diese Haltung habe mit dem Triumph des Thatcherismus zu tun, der muss sich nur die Mode anschauen, die Galliano heute für Dior macht. Die Ästhetik lebt weiter, die Wut und der Schmerz haben sich entkoppelt.

Aber der Blick auf diese Jahre hat nichts mit Nostalgie zu tun, hat nichts von dem Gestus der Postmoderne, die das Zitat feierte oder die Ironie. Es geht vielmehr um eine neue Moderne, die verschiedene Wirklichkeiten gleichberechtigt gegeneinanderstellt. Ein Re-Cast, Rollen werden neu besetzt. Was haben der islamistische, der kapitalistische, der hedonistische Extremismus gemeinsam, was verbindet das beginnende Ende des Systemkonflikts zwischen Russland und Amerika, die Gründung der Grünen, den blassen Bill Gates, Joseph Beuys im Guggenheim? Die Jahre 1980 und 1981 sind der Stoff für Verschwörungstheorien, die nur deshalb so genannt werden, weil sie jenseits der einfachen Geschichten für ein Gemurmel sorgen, für ein Brummen, für eine Unruhe, dass es eben mehr gibt oder anderes, was wir nicht sehen, was wir nicht wissen. Die Verschwörungstheorien bedienen dieses Unbehagen.

Ein Held ohne Heroismus

Wiktor Kortschnoi lebt heute in einer recht engen Neubauwohnung eine halbe Stunde von Zürich entfernt, in einem kleinen Ort namens Wohlen. Seine Frau trägt einen lilafarbenen Pullover und ein Kopftuch in der gleichen Farbe. Ihr Arm schmerzt. “Das kommt vom Lager”, sagt sie, “erst Adenauer hat mich in den fünfziger Jahren aus der Sowjetunion freigekauft.” Kortschnoi ist ein Held ohne Heroismus. “Manche sagen, die Perestroika habe mit meiner Flucht angefangen”, sagt er. “Na, wenn die das sagen.” In den Schach-Séancen zwischen Kortschnoi und Karpow von 1981 jedenfalls bündelten sich Show und Systemkonflikt, Verschwörung und Esoterik, Theatralität und Versuchung. Die Zeit, so scheint es, musste erst durch das Nadelöhr dieser Jahre, bevor etwas Neues entstehen konnte. Aber was genau ist passiert?

“Als Reagan gewählt wurde, stellte sich endlich wieder die Frage, auf wessen Seite man eigentlich sein wollte”, sagt der Künstler Robert Longo, der 1980 seine Serie “Men in the Cities” machte, die 2008 zu Beginn der Finanzkrise den Absturz der Banker bebilderte. “Es geht um die Lücken in der Geschichte”, sagt der Schriftsteller Don DeLillo, der 1980 in Athen an seinem Roman “Die Namen” schrieb, während um ihn herum die Bomben explodierten und sich der Terror wie von selbst in sein Werk hineinschrieb. “Wir brauchen ein neues, großes Wir”, sagt der Philosoph Slavoj Zizek, der 1980 in Ljubljana auf den Weltgeist wartete. “Auf einmal hatten alle Geld. Geld wurde seit 1980 der Maßstab, mit dem Kunst gemessen wurde. Geld wurde zum Index der Träume”, sagt Robert Longo. “Wir bekamen 1980 einen radikaleren Kapitalismus und einen radikaleren Islamismus”, fügt Abol Hassan Banisadr hinzu. “Meine Anzüge waren zu schwul für Amerika”, wirft Giorgio Moroder ein. Die 24-jährige Amerikanerin Mei-Lun Xue erzählt, dass ihre Eltern damals in Shanghai heirateten. Es war die Zeit, als Deng Xiaoping Madame Mao vor Gericht stellte. “Kapitalismus mit asiatischen Werten”, ruft Zizek. Moroder ist das egal, er schwärmt lieber von “Blondie”, später hat er dann für die Chinesen die Olympia-Hymne komponiert. Zizek schüttelt den Kopf. Manchmal schweigt auch er ratlos. Nein, doch nicht: “Ja, 1981 war doch die Marienerscheinung in Medjugorje. Der Anfang vom Ende des Kommunismus in Jugoslawien.”

Ein Ende. Und ein Anfang. Im Jubeljahr 2009 war kein Platz für solche Geschichten. Es war die Timothy-Garton-Ash-hafte Selbstgewissheit dieser 1989-Kongresse, die alle weiteren Fragen erledigte. Es ist Zeit für ein paar Anti-Kongresse, die diesen Gewissheiten etwas entgegenrufen. Zum Beispiel Antworten, für die es keine Fragen gibt. Zwischen Januar 1980 und Dezember 1981 ist etwas passiert, was die Welt für immer verändert hat. Nur was?

 

Korrektur: Die Druckfassung dieses KulturSPIEGEL-Artikels erweckte den Eindruck, das Spaceshuttle “Columbia” sei in den achtziger Jahren explodiert. Tatsächlich hatte das Shuttle seinen Jungfernflug in den Achtzigern. In der Online-Version wurde dies jetzt korrigiert.